Friday, January 27, 2006

Fünfzehneinhalb

Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, was es bedeutete, als der Arzt bei einer Routineuntersuchung ihres Sohnes erklärte, der Junge könne keine Farben sehen. Nur Graustufen. "Sie meinen...wie ein Hund?", fragte die völlig ratlose Frau, und der Arzt nickte, obwohl er wusste, dass Hunde eigentlich doch Farben sehen können. "Ihr Sohn, er erkennt nur verschiedene Stufen von Grau, sein gesamtes farbliches Sehen beschränkt sich auf Schwarz und Weiß und dem, was dazwischenliegt.", sagte er, um es ihr irgendwie begreiflicher zu machen. Doch die Frau weinte nur und begriff erst viel später, dass es ihrem Jungen mit dieser Einschränkung nicht merklich schlechter ergehen sollte, als all den anderen Kindern.

Er lernte nicht Blau von Rot zu unterscheiden, oder Gelb von Grün. Er unterschied Stufe 5 von Stufe 32 und Stufe 12 von Stufe 26. Die in seinen Augen farblose Welt unterschied er in hell und dunkel. Er bemerkte viel feinere Unterschiede in der Helligkeit, nahm Kontraste wesentlich intensiver wahr und konnte so jeder Helligkeitsstufe eine bestimmte Zahl zuordnen. Sechsundneunzig Stufen.
Er blieb stehen, wenn die Ampel Stufe 24 anzeigte und er aß nur Bananen, wenn sie noch nicht Stufe 43 erreicht hatten. Dann waren sie ihm schon zu matschig.

Die Jahre strichen ins Land, er machte das Abitur und begann ein Studium an der Kunsthochschule. Seinen Dozenten und Professoren verschwieg er die Behinderung. Sie hatten nie auch nur den leisesten Verdacht.

Schließlich trat sie in sein Leben. Nie hatte er solch einen starken Kontrast von Helligkeit und Dunkelheit bei einem Menschen feststellen können. Ihr Haar erschien im tiefsten Schwarz, das er kannte, und ihre Haut war so bleich und grell, dass seine Augen ein wenig schmerzten, wenn er sie zu lange ansah. Doch sein Blick verließ ihr Gesicht nicht mehr.
Schließlich kam sie auf ihn zu und fragte mit leicht entnervter Miene: "Sag' mal, bist Du aus Schweden?"
Da stand er nun, sein Körper geschüttelt von einer Hilflosigkeit, die er so zuvor nicht erfahren hatte. Ein mit wegbrechender Stimme gestottertes "Nein." zwang er sich nach schier endlosen Sekunden heraus, "...wie...wie kommst du darauf?" "Du starrst mich an, als hättest Du in Deinem Leben bisher ausschließlich blonde Mädchen gesehen.", erwiderte sie. Beide lachten und seine Unsicherheit wich von Minute zu Minute, jedoch seine Augen wollten sich einfach nicht an den Kontrast gewöhnen. Der Schmerz war ihm egal.

Eines Morgens trafen die Sonnenstrahlen so hell auf ihr Gesicht, dass es förmlich zu leuchten schien. Er schaute sie an, wie sie schlief, seine Augen tränten vor Schmerzen, doch in diesem Moment bemerkte er, dass er ihrer Lippenfarbe keine Graustufe mehr zuordnen konnte. Der Rot-Ton ihrer Lippen lag zwischen 15 und 16, genau dazwischen, so dass er nicht umhin kam, ihm eine ganz eigene Stufe zuteil werden zu lassen. Doch an jenem Morgen, in dem Moment, wo die Sonne ihre blasse Haut traf, da erkannte er ihre Lippen einfach nicht wieder. Er ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Der Schmerz in seinen Augen, so merkte er jetzt, er war immer noch da. Und er wurde stärker...

Als sie ihm nach einer Woche den Verband abnahmen, da sah er keine Graustufen mehr. Er sah nur noch Stufe 1. Dunkelheit. Es machte keinen Unterschied mehr, ob er die Augen öffnete oder geschlossen ließ. Im Hintergrund hörte er jemanden leise weinen. Es war dasselbe hilflose Weinen, dass er mit 6 Jahren das letzte Mal gehört hatte. Diesmal wusste er, warum.

Er hatte ihr nie von diesem Schmerz erzählt, von diesem Schmerz in den Augen, wenn er sie ansah. Er selbst erkannte diesen großen Schatten nicht, den ihr alles überstrahlender Anblick auf ihn warf. Und wie die Tür nun aufgeht und ihre Stimme erklingt, da ist plötzlich wieder ein Bild vor seinen Augen. Ein Bild, das die Dunkelheit erleuchtet. Ein Bild, dessen einzige Farbe die Fünfzehneinhalb ist.

Ein Bild, das endlich aufgehört hat, weh zu tun.