Sunday, January 28, 2007

Tornesch

Da stehst du nun. Ich komme immer noch jeden Morgen mit zum Bahnhof, um dich zu verabschieden. Heute fährt der Zug nicht, weil er entgleist ist, direkt vor unseren Augen. Du siehst ganz schön erschrocken aus. Es ist ganz still, nur ein Zischen hört man. Niemand außer uns hat auf den Zug gewartet, so früh fährt hier niemand zur Arbeit, nur du. Und jetzt stehst du da, mit offenem Mund, auf den entgleisten Zug starrend, sagst nichts. Ich wünschte, du würdest was sagen. Oder mir in die Augen sehen, wenigstens mir in die Augen sehen, das hast du schon so lange nicht getan. Du weißt wahrscheinlich nicht einmal mehr, welche Farbe meine Augen haben. Den Zug kannst du scheinbar stundenlang anglotzen, aber für mich hast du nicht mal eine Sekunde übrig. Jeden Morgen stehe ich hier und heule und du glaubst immer noch, es sei nur der Wind, der mir die Tränen in die Augen treibt, selbst wenn es eigentlich keinen Wind gibt. Und jetzt tränen deine Augen, zum ersten Mal seit Jahren scheinst du zu weinen. Doch du wirst mir sagen, dass es nur vom Rauch ist, welcher aus dem Zug heraus in deine Augen weht. Wenn es doch wenigstens gelogen wäre. Dann wirst du sagen, dass du das Auto nimmst und irgendwann heute Abend kommst du heim, schmierst dir ein Brot und wirst noch ein wenig vor deinem Computer hocken, während ich unten sitze und weine, bei geschlossenen Fenstern. Dein Scheißcomputer. Als würde es nicht reichen, den ganzen Tag auf Arbeit dranzusitzen. Und am nächsten Morgen werde ich dich zum ersten Mal nicht zum Bahnhof bringen, weil kein Zug fahren wird. Du wirst das Auto nehmen und ich winke dir dann nach, mit Tränen in den Augen und heimlich wünschend, der Zug wäre erst ein paar Kilometer später entgleist.