Sunday, November 22, 2009

...ein Mensch zu sein

Sie sah immer ein wenig anders aus, doch ich wusste nie genau, was es war. Es fühlte sich immer neu an, wenn ich sie traf. Und immer wieder war diese Unsicherheit da, nicht zu wissen, was man sagen soll, wenn man sich mit jemandem zum ersten Mal unterhält. Dabei habe ich schon so viele Male mit ihr gesprochen, so viele Gedanken, Ängste und Wünsche ausgetauscht, so oft ihr gegenüber gesessen und überlegt, was anders ist.

Wir schauten oft alte Kinderfilme zusammen an. Sie hatte eine ganze Sammlung von alten Trickfilmen. Einmal, da schauten wir Arielle, die Meerjungfrau. Die wünschte sich so sehr ein Mensch zu sein, dass sie ihre Stimme dafür hergab. Ob sie diese Entscheidung wohl je bereute, fragte sie mich. Ob ich auch das Unterwasserparadies verlassen hätte, um ein Mensch zu sein. Was sollte ich darauf denn sagen? Es ist nicht mehr dasselbe, diese Filme zu sehen. Was mal völlig selbstverständlich schien, ist nur noch falsch und fragwürdig. Wir schauten den Film nicht zu Ende und ich ging heim, darüber nachdenkend, was die Vor- und Nachteile am Menschsein sind. Ich schüttelte den Kopf und lachte kurz über mich selbst, diese absurden Gedanken, und wischte mir den Regen von der Nasenspitze.

Als ich sie ein paar Tage später wiedersah, übergab sie mir ein kleines Notizbuch mit einer sorgsam ausgearbeiteten Liste darin: Vor- und Nachteile am Menschsein. Ich sah sie ungläubig und irritiert an. Sie bestand darauf, dass ich die Liste lese und ernst nehme. Es waren bestimmt weit über eintausend Punkte aufgeführt und nach Prioritäten sortiert. Sie schien an wirklich alles gedacht zu haben. Es war ein Manifest gegen die Menschheit.
Wir diskutierten den ganzen Tag und die halbe Nacht. Auch wenn wir uns oft nicht einig waren, so konnte sie mich doch davon überzeugen, dass Arielle einen großen Fehler begangen haben musste. Einen ganz gewaltig großen Fehler.

Einige Wochen vergingen, wir fuhren ans Meer. Wir saßen im Sand und schauten auf die See, malten uns aus, wie es wäre, würde Arielle heute und nicht im ach so romantischen Seefahrerzeithalter des Disneyfilms vor der gleichen Entscheidung stehen. Ein singendes Fischorchester gegen Finanzkrise und Afghanistankrieg. Eine Krabbe zum Freund gegen Facebook und MySpace. Die kleine Meerjungfrau wäre wohl gut beraten, weiterhin in ihrem überfischten Unterwasserparadies ihre Kreise zu ziehen. Es sprach wirklich nicht mehr all zuviel dafür, seine Flosse gegen zwei Beine eintauschen zu wollen.

Sie packte mich an beiden Händen und zog mich mit ins Wasser. Wir schwammen weit raus und dann ließen wir uns treiben, von den seichten Wellen zurück an den Strand. Da lagen wir nun, das Wasser schlug sanft gegen unsere Füße und wie aus dem nichts fing sie zu singen an. Sie sang davon, ein Mensch zu sein, mit solch beißender Ironie, dass es fast weh tat. Dann sprang sie auf, zurück ins Wasser, schwamm so weit sie konnte und ließ mich zurück. Ich legte mich auf mein Handtuch, blickte kurz in die Sonne und mir wurde klar, man hat nie eine Wahl. Ich schlief ein.

Von Schreien geweckt wachte ich auf und sah in Richtung Meer, wo sich eine Traube von Menschen gebildet hatte. Ich ging zu der Stelle und da sah ich sie und einen Mann, der ihr in den Mund pustete. Wieder sah sie anders aus und wieder stand ich da und bekam kein Wort heraus. Dann kotzte sie Wasser und schnappte nach Luft.

Es ging ihr bald besser, doch sie sprach kein Wort mehr. Als hätte sie ihre Stimme gegeben. Für ein besseres Leben bei den Fischen, das ihr der pustende Mann nicht gönnen wollte.