Friday, September 10, 2010

Man in the mirror

Ich geh' nicht mehr hin. Ich war da, sie holte meine Akte raus und das war ich dann. Ich saß vor ihr und sie schaute kaum hoch, sie las mich lieber durch. Da stand ja alles.

Ich rufe wo an, ich sage eine Nummer, sie wissen Bescheid. Nur eine Nummer und da steht alles, was von mir übrig ist. Da steht nicht, wie ich bei meinem allerersten Fußballspiel geweint habe, weil meine Mitspieler mich für das Gegentor lautstark kritisierten. Da steht nicht, wie ich vor der Wohnung meines Vaters stand, gebetet habe, dass er doch da sein möge und danach nie wieder etwas mit Gott zu tun haben wollte. Da steht auch nichts davon, wie ich stolz in der Badewanne saß und mir mit einem Einwegrasierer den weichen Flaum von der Oberlippe kratzte. So etwas steht da nicht. Das alles zählt jetzt nicht mehr. Ich bekomme schließlich auch an der Fleischereitheke kein Würstchen mehr auf die Faust.

Die Kinder im Bus erinnern mich an nichts. Als sei ich nie Kind gewesen. Als hätte ich nie zum allerersten Mal auf dem Fußballplatz gestanden, oder gebetet oder mich rasiert. Was mich prägt ist nicht länger die Vergangenheit, es ist ein Stempel auf einem Formular. Ob etwas wirklich passiert ist, darüber geben nur noch beglaubigte Urkunden und Bescheinigungen Auskunft. Meine Erinnerung verrinnt, doch Papier ist geduldig. Papier kann es sich leisten, ungeachtet dieser schnelllebigen Zeit.

In einer Castingshow singt einer "Man in the mirror" von Michael Jackson, mehr schlecht als recht. Nach dem Urteil reißt er sich seine Nummer von der Brust, seine Eltern sind trotzdem stolz und schimpfen auf die vermeintliche Inkompetenz der Jury. Der junge Mann hatte nie eine Chance, auch nur ansatzweise an die Leistung seines großen Idols anzuknüpfen. Jackson war schließlich nur so gut, weil er keine Kindheit hatte.

An der Bushaltestelle hat einer mit der Sprühdose "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" an die Wand geschmiert und wurde erwischt. Er wird in den Streifenwagen geführt und leistet keinen Widerstand. Die einzige Person, die er von der Wache später anrufen wird, ist seine Mutter. Für die Polizei ist er nach seiner Abholung nur noch eine abzuheftende Akte, doch für seine Mutter bleibt er immer das Kind, das sie tröstend in den Arm nahm, nachdem ihm seine Mitspieler beim allerersten Fußballspiel so heftig beschimpften.