Was hält eine alte Frau am Leben? Was treibt sie an, jeden Tag aufs Neue früh morgens aufzustehen, sich die Frisur zurechtzumachen, in den Edeka zu gehen, um sich etwas Trockenobst und Zutaten für eine warme Mahlzeit von der spärlichen Rente zu leisten und diese dann um Punkt 12 Uhr mittags nach minutiöser Zubereitung zu sich zu nehmen - allein, der Ehegatte starb vor 3 Jahren an Lungenkrebs. Den Krieg überlebt, Ernte 23 nicht. Die Tapeten vergilbt vom Rauch eines halben Jahrhunderts, eines halben Jahrhunderts gemeinsamer Erinnerungen, die jetzt nur noch ihr allein gehören. Erinnerungen an ein gutbürgerliches Leben, das gefüllt war mit Fernsehabenden, Frühstückszeitungen, einem zunehmend lauter werdenden Schnarchen und einem Alltag, der über 40 Jahre hinweg sämtliches Leben aus ihr herausgesaugt hat.
Und doch macht sie weiter. Tag für Tag. Einmal die Woche trifft sie sich mit anderen alten Frauen zum Rommé spielen. Man spricht dann kurz über das werte Befinden, was der Arzt so gesagt hat, ob die neue Hüfte sich gut macht. Fragen werden gestellt, deren Antwort jeder kennt, da sowohl Frage als auch Antwort immer dieselben bleiben. Der gleiche Kuchen, der selbe Kaffee, die selbe Lethargie. Manchmal beneidet sie die anderen. Eine hat einen kleinen Rauhhaardackel, der den Platz einer geliebten menschlichen Person ersetzt hat, eine andere bekommt einmal im Monat Besuch von den lieben Kindern, zum runden Geburtstag kommen sogar die Enkel mit. Dann isst man zusammen den selben Kuchen, trinkt gemeinsam den selben Kaffee und tut so, als sei die Lethargie durchs nun offene Fenster entwichen, bloß weil jetzt sechs Personen statt nur der einen auf dem Sofa platzgenommen haben.
Doch die alte Frau hat weder Kinder noch einen Hund. Den will sie sich nicht mehr anschaffen, da sie weiß, er würde sie überleben.
Und doch macht sie weiter. Tag für Tag. Vielleicht denkt sie nicht darüber nach. Vielleicht denkt sie überhaupt nicht nach. Es ist die Mühe nicht wert. Nicht mehr.