Sunday, January 28, 2007

Tornesch

Da stehst du nun. Ich komme immer noch jeden Morgen mit zum Bahnhof, um dich zu verabschieden. Heute fährt der Zug nicht, weil er entgleist ist, direkt vor unseren Augen. Du siehst ganz schön erschrocken aus. Es ist ganz still, nur ein Zischen hört man. Niemand außer uns hat auf den Zug gewartet, so früh fährt hier niemand zur Arbeit, nur du. Und jetzt stehst du da, mit offenem Mund, auf den entgleisten Zug starrend, sagst nichts. Ich wünschte, du würdest was sagen. Oder mir in die Augen sehen, wenigstens mir in die Augen sehen, das hast du schon so lange nicht getan. Du weißt wahrscheinlich nicht einmal mehr, welche Farbe meine Augen haben. Den Zug kannst du scheinbar stundenlang anglotzen, aber für mich hast du nicht mal eine Sekunde übrig. Jeden Morgen stehe ich hier und heule und du glaubst immer noch, es sei nur der Wind, der mir die Tränen in die Augen treibt, selbst wenn es eigentlich keinen Wind gibt. Und jetzt tränen deine Augen, zum ersten Mal seit Jahren scheinst du zu weinen. Doch du wirst mir sagen, dass es nur vom Rauch ist, welcher aus dem Zug heraus in deine Augen weht. Wenn es doch wenigstens gelogen wäre. Dann wirst du sagen, dass du das Auto nimmst und irgendwann heute Abend kommst du heim, schmierst dir ein Brot und wirst noch ein wenig vor deinem Computer hocken, während ich unten sitze und weine, bei geschlossenen Fenstern. Dein Scheißcomputer. Als würde es nicht reichen, den ganzen Tag auf Arbeit dranzusitzen. Und am nächsten Morgen werde ich dich zum ersten Mal nicht zum Bahnhof bringen, weil kein Zug fahren wird. Du wirst das Auto nehmen und ich winke dir dann nach, mit Tränen in den Augen und heimlich wünschend, der Zug wäre erst ein paar Kilometer später entgleist.

Tuesday, January 23, 2007

Unter dem Eis

Seit ich denken kann, ist der große Fluss zugefroren. Doch hat man uns immer davor gewarnt ihn zu betreten. Das Eis sei zu dünn, sagten sie dann. Also wuchsen wir zwischen dem großen Fluss und dem arktischen Meer auf, in einer kleinen Stadt, in der es Fisch zu essen gab. Tatsächlich gab es nur Fisch. Gut, Brot gab es noch, aber selbst das schmeckte nach Fisch. Und alles roch danach. Irgendwann hatte ich sozusagen die Nase voll von diesem permanenten Gestank, der einen täglich umgab. Ich erzählte ihm davon, doch er meinte nur, dass man sich doch irgendwie an den Geruch auch gewöhnen kann. Aber das konnte ich nicht. Ich wollte mehr riechen als nur Fisch. Immer Fisch, Fisch, Fisch. Ich biss in mein letztes Stück Brot und legte mich schlafen.
Nachdem es schon vier Wochen nicht dunkel wurde, beschloss ich zu gehen. Über den großen Fluss, egal was da sein möge, schlimmer als dieser Gestank konnte es wohl kaum sein. Ich fragte ihn, ob er mich begleiten würde. Er verneinte und wies auf die Gefahr hin, das brüchige Eis, das brüchige Eis, Eis, Eis, und was soll schon hinter dem großen Fluss sein, fragte er da noch. Und als seine Stimme kurz wegbrach wusste ich, dass er selbst schon oft daran gedacht haben musste. Er würde es nie zugeben, aber ich wusste es. Ich kannte ihn so lange, so gut, doch würde er mir gegenüber dennoch nie seine schwachen Momente zugeben, geschweige denn sonst irgendjemandem davon erzählen. Er würde selbst dann noch Witze reißen, wenn ihm eigentlich zum Heulen zumute ist. Ich antwortete also, dass es mir egal sei, was da ist, solange es nicht nach Fisch riecht. Er lachte, als hätte ich einen Witz gemacht. Und da wusste ich, dass ich allein gehen würde. Er ging zurück zu den anderen an den Tisch und aß seinen Fisch, mit dem ich mich nun nicht mehr zufriedengeben wollte. Ich packte ein Stück Brot ein und machte mich auf die Reise.
Nach vielen Stunden stieß ich schließlich auf ein Loch im Eis. Auf der sichtbaren Wasseroberfläche schwamm eine Art Tasche, die ich ganz vorsichtig herauszog. Das Eis knackte leise, doch in diesem Moment war es mir egal. Ich untersuchte die Tasche und alles was ich fand war ein kleines Büchlein, in das mit einer mir fremden Schrift hineingekritzelt wurde, dazu eine Dose Fisch. Ich schaute noch einmal in das Loch, sah mein gespiegeltes Gesicht und robbte nun vorsichtig zurück. Dann drehte ich um und beschloss mich mit dem Fisch zufriedenzugeben, den ich mein ganzes Leben jeden Tag riechen musste, und mit einem Freund, den ich nie kennen lernen durfte, weil er wie ich nicht auf die Warnungen hören wollte.