Saturday, July 12, 2008

Fehlende Seiten

Der Klang ihrer Geige ließ ihn wimmern wie ein Baby. Es war das selbe Lied, jedes Jahr im November, wenn die letzten Blätter den Boden erreichten. Das selbe Lied.
Nur mit Bademantel und Socken bekleidet saß sie da. Und sie spielte, unzählige Stunden am Stück, das selbe Lied, immer und immer wieder. In diesem völlig leeren Raum. Nur ein Stuhl in der Mitte, auf dem sie saß und spielte. Bis es dunkel wurde. Dann ging sie zu ihm, nahm ihn in den Arm und wischte ihm die Tränen aus den Augen, während sie mit den eigenen zu kämpfen hatte. Dann schloss sie die Tür, wie man auch ein dickes Buch schließt, das man nicht ausgelesen hat. Mit all dem Wissen von der Ungewissheit, mit dem Drang nach Auflösung und mit der Müdigkeit, die einen auf ein unbestimmtes morgen vertröstet.

Sie schlief immer zuerst ein. Dann legte er seine Hand auf ihren Bauch und es schien ihm, als könnte alles wieder gut sein. Als sei das alles nie passiert. Dann schlief auch er, während nebenan noch immer die Geigentöne nachhallten, die davon erzählten, dass ein Vogel Hochzeit feiern wollte.


Es sollte nur ein Kapitel lang halten und es brach ihnen das Herz. Als der nächste November kam, blieb der leere Raum mit der Geige verschlossen, wie ein dickes Buch, das im Regal verstaubt. Ein dickes Buch, dessen wichtigstes Kapitel herausgerissen wurde und dessen Ende für sie so einfach keinen Sinn mehr ergeben hätte.