Monday, September 14, 2009

Du musst dein Leben ändern

Du musst dein Leben ändern schreie ich jedem ins Gesicht. Du musst dein Leben ändern sprühe ich an jede Wand, ritze ich in jeden Tisch, schreibe ich in jede Email und poste ich auf jede Pinnwand, die ich finden kann. Jeder soll es sehen. Du musst dein Leben ändern trifft immer zu und ist immer richtig, ganz egal wer es hört oder liest, nie ist es falsch. Irgendwas ist immer nicht gut genug. Ich stelle mir vor, jemand liest dies und kündigt seinen Job, um doch noch sein Abitur zu machen. Ich stelle mir vor, jemand bricht sein Studium ab und setzt sich in den nächsten Flieger, um mal alles hinter sich zu lassen und wieder zu sich zu finden. Ich stelle mir vor, jemand wird sich bewusst, dass die Beziehung ohne Liebe nicht mehr auszuhalten ist. Vielleicht lernt jetzt jemand Geige, vielleicht geht jemand wieder aus, vielleicht lässt jemand die vierte Tafel Schokolade jetzt weg, weil er gehört hat, er müsse sein Leben ändern. Vielleicht geht einer zum Sport oder ins Kloster, weil er gelesen hat, er müsse sein Leben ändern. Mehr Zeit für die Kinder, mehr Zeit für sich. Nicht mehr soviel trinken, aufhören zu Rauchen. Jeder muss sein Leben ändern, so viel steht fest.

An der Bushaltestelle steht es heute groß geschrieben und ich versuche aus den Gesichtern die Reaktionen zu lesen, doch die Gesichter, sie bleiben stumm. Da ändert sich nichts, da bleibt alles beim Alten, ich habe wieder mal niemanden und rein gar nichts erreicht. Ich will schon längst gehen, da sehe ich sie, wie sie die Schrift anstarrt und auf der Stelle verharrt. Sie steigt nicht in den Bus und ich sehe es ihr an, dass sei begriffen hat. Du musst dein Leben ändern.

Glückstrunken laufe ich die Straße entlang und bleibe vor einem Friseursalon stehen. Du musst dein Leben ändern, also gehe ich hinein und die Haare fallen wie eine Last von mir ab.
Am nächsten Tag sitze ich der Frau im Bus gegenüber, bin mutig und frage, warum sie den Bus gestern nicht nahm. Sie zeigt lächelnd auf ihr Portemonnaie und erzählt mir dann freundlich, wie vergesslich sie von Zeit zu Zeit doch sei. Den Rest der Fahrt sehe ich meiner Reflektion im Fenster dabei zu, wie sie sich immer wieder die Haare richtet. Irgendwas ist immer nicht gut genug.