Sunday, January 03, 2010

Koma

Ich habe einen Schlauch in meinem Bauch, weil sie es leid waren, mich zum Essen bewegen zu wollen. Ich liege den ganzen Tag. Manchmal sitze ich auch, wenn sie mich aufrichten. Dann weint jemand oder schreit mich an. Ich soll endlich aufgeben. Ich soll wieder normal sein. Kein Arzt, kein Psychologe und kein Freund, der es nicht versucht hätte. Jeder war hier, jeder sagte mir, ich solle doch endlich mit der Scheiße aufhören. Ich tue ihnen weh. Ich bin eine Belastung geworden. Ein Klotz am Bein, der nie mehr fühlte als ein Klotz. Bis sie ging.
Ich habe es vermasselt und nun trage ich die Konsequenzen. Auf meine Weise. Ich will nach außen nicht mehr sein. Nicht mehr als ein Stein. Ich will nur noch in mir existieren. Alles, was ich fühle soll mein sein. Alles, was ich denke, jedes Wort, jede Melodie. Ich will nur noch allein sein. Ganz allein.

Ich habe das Koma selbst gewählt. Viele haben sich abgewandt. Manche kommen noch von Zeit zu Zeit, nur um mir zu sagen, was für ein Arsch ich geworden bin. Wie recht sie haben. Ich habe es vermasselt. Sie kommt nicht mehr zurück. Sie kommt niemals mehr zurück.
Der Pfleger schüttelt nur den Kopf, wenn er mich wäscht. Manchmal kitzelt es, dann zucke und lächle ich kurz, nur um im nächsten Moment wieder im Nichts zu verschwinden. Es treibt ihn in den Wahnsinn. Ich weiß, er hasst mich. Jeder hasst mich jetzt. Weil ich ihnen ohne ersichtlichen Grund dieses Leid antue. Weil ich nicht mehr bei ihnen sein will. Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin ein Problem.

Es sind zwei Jahre vergangen, seit sie ging. Seit zwei Jahren habe ich aufgehört zu sein. Mein Vater kam heute vorbei und schlug mir so fest ins Gesicht, dass ich aus den Ohren zu bluten begann. Er ließ mich einfach so liegen. Ich bin fast am Ziel.

Ich höre in mich rein, höre fast nur noch mich selbst. Alles verblasst. All die anderen Stimmen, all die Berührungen mit all ihrer Vergangenheit, all die Gesichter, die mir wichtig waren, mein ganzes Leben ist nur noch ein undurchdringlicher Nebel. Ich weiß nicht, ob es nur an der Gehirnerschütterung liegt, doch es fühlt sich richtig an. Ich bin fast da, wo ich hinwollte. Ich schließe die Augen und sinke zusammen, schwerelos und taub.

Ein kalter Lappen holt mich zurück. Jemand wischt das Blut von meinem Kopf. Alles ist verschwommen. Als der Lappen über meine Augen fährt, sehe ich sie vor mir. Sie trägt ihr Haar zu einem geflochtenen Zopf zusammengebunden. Genau wie am Tag, als sie ging. Ich öffne die Augen, damit das stechende Licht hinein brechen kann. Ein Stechen, das durch meinen ganzen Körper fährt. Ich bin nicht da, wo ich hinwollte. Ich bin nicht am Ziel. Ich habe es vermasselt. Dieses Mal richtig.

Ich versuche aufzustehen und sinke zu Boden, zu schwach sind meine Muskeln, um mich nach so langer Zeit zu tragen. Jemand hilft mir auf, ich fühle sie ist es, auch wenn es nur der Pfleger ist. Ob ich wohl endlich zur Vernunft gekommen sei, fragt er mich, ohne jegliches Gefühl in der Stimme. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich sage nichts.

Meine Mutter kommt vorbei, mit Tränen in den Augen nimmt sie mich zum ersten mal seit meines Abschieds wieder in den Arm. Mir wird schwindelig und schlecht, wenn ich daran denke, wie weh ich ihr getan habe. Oder es liegt doch nur an der Gehirnerschütterung.