Monday, November 14, 2005

Gesetzesbruch

Ein Tag ohne ein Lächeln ist ein verlorener Tag. Ein schmerzverzogener Mund macht sich breit, liest man diese Zeile unter der Rubrik "Lebensmotto" in einem zwölf Jahre alten Poesiealbum, welches man in der siebten Klasse allen anderen Kindern mal mitgegeben hatte, auch denen, die es eigentlich gar nicht wollten. Jessica war eines der Mädchen, die sehr gerne und sehr oft lächelten. Für sie gab es keine verlorenen Tage, da war ich sicher. Für sie war es nicht nur ein Spruch, den sie mir in mein Album schrieb, für sie war es Gesetz.

Dann traf ich sie wieder, zum ersten mal seit über zwölf Jahren. Sie ist nie aus der Kleinstadt weggezogen, in der wir gemeinsam die Schulbank drückten. Sie blieb, machte eine Ausbildung in einer Kanzlei, wurde übernommen, sortierte nun Akten, die sie zuvor schon sortiert hatte, doch es fiel ihr einfach nicht mehr auf. Ich beobachtete sie eine Weile, dann ging ich zu ihr und übergab ihr den Brief, den ich für meinen verhinderten Vater hier abzugeben versprochen hatte. Sie sah mich nur kurz an, dann drehte sie sich weg und legte den Brief in eine Ablage. Sie widmete sich wieder ihren Akten, ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
Ich sagte ihr, wer ich bin und das wir uns doch von früher kennen und fragte, ob ich mich denn so sehr verändert hätte, dass sie mich nun offenbar nicht mehr wiedererkannte. Sie musterte mich und nickte, sie begann sich zu erinnern. Ich stellte ihr alle mir zur Verfügung stehenden Small-Talk-Fragen, sie beantwortete alle in einem Satz. Manchmal sogar nur mit einem Wort. Doch es war nicht ihre Wortkargheit, die mich beunruhigte, es war ihr Gesicht. Es veränderte sich nicht, keinerlei Gemütsregungen, es war einfach leer und frei jeglicher Emotion. Die Fragen begannen mir auszugehen und so blieb am Ende nur die eine übrig. Ich erinnerte sie an diesen Satz, den sie mir mit 13 Jahren in mein Poesiealbum schrieb. Ihre Augen waren glasig und doch undurchdringbar. Sie nahm einen Zettel, schrieb ein paar Worte und gab ihn mir mit der Bitte, ich möge den alten Satz durch diesen neuen ersetzen. "Lieber einen Tag verlieren, als immer wieder das Gesicht." Ich sah sie an und für einen kurzen Augenblick, da entdeckte ich das Lächeln, welches seit über zwölf Jahren nicht mehr meine Augen traf. Dann drehte sie sich um und sortierte weiter ihre Akten.

Wednesday, November 09, 2005

S.O.S.

Ich bin tot. Seit nunmehr vierundzwanzig Tagen weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Es passierte alles ganz plötzlich. Das Herz hörte auf zu schlagen, das Gehirn auf sich Sorgen zu machen, die Sehnsucht auf zu sein. Alle rannten an mir vorbei, nur ich blieb stehen, legte mich nach kurzem Zögern auf den Asphalt, und schlief ein. Ihre Schritte wurden immer leiser und leiser, bis ich sie schließlich gar nicht mehr wahrnahm. Für einen Moment war es so, als ob jeder stehengeblieben wäre, doch tief in mir wusste ich, dass sie mich gar nicht bemerkten. Der Sterbevorgang hatte mich taub gemacht.
Ich wartete darauf, dass meine Seele ihre sterbliche Hülle verließe, doch es geschah nichts. Ich lag einfach so da, nichts davon mitbekommend, was um mich herum vor sich ging, nicht wissend, was als nächstes kommen mochte, einfach da, obwohl ich doch weg sein wollte.
Seit nunmehr vierundzwanzig Tagen liege ich hier, seelenlos, doch ohne dass je eine Seele meinen Körper verlassen hätte. Und wie ihre Schritte schließlich wiederkehren, ganz langsam lauter werdend, da sterbe ich ein zweites Mal, ganz still und leise, nur für mich selbst.

Tuesday, November 01, 2005

Schlafstörungen

Es dauert manchmal eine Ewigkeit, bis wir lernen, jemandem zu vertrauen. Wochen, Monate, gelegentlich sind es sogar Jahre. Hat man die Zeit des Vertrauenlernens schließlich hinter sich, bemerkt man plötzlich diese innere Ruhe, die sich mit zunehmender Zeit in einem breit gemacht hat. Das Infragestellen hört auf. Das Nachdenken nimmt ab. Man legt sich in das frisch zusammengebaute Bett aus Vertrauen und schläft ein. Einfach so.

Während man schläft, passieren sehr viele Dinge um einen herum. Aber alle ganz heimlich und leise, damit man nicht geweckt wird. Und während manch einer Jahre, wenn nicht gar bis an sein Lebensende durchschläft, werden andere wiederum unsaft aus ihrem wohlverdienten Tiefschlaf gerissen. Da lässt dann jemand mal etwas Zerbrechliches fallen, das zerspringt dann in viele klirrende Einzelteile und schon sitzt man mit weit aufgerissenen Augen im Bett.

Doch egal, wie und wie oft das eigene Vertrauen ausgenutzt, mißbraucht und mit Füßen getreten wird, man kann einfach nicht ohne. Jeder Schritt, den man tut, ist begleitet von Vertrauen. Vertrauen in das Mindesthaltbarkeitsdatum auf der Geflügelmortadellaverpackung. Vertrauen in andere Autofahrer, dass sie nicht plötzlich die Spur wechseln und einen Frontalaufprall verursachen. Vertrauen in den Piloten, dass er einen sicher zum gewünschten Ziel bringt. Vertrauen in die Architektur einer Brücke, die vielleicht schon seit Jahrhunderten bestand hat. Und letztlich auch das Vertrauen in sich selbst, um überhaupt den Mut aufzubringen, sich jeden Tag auf's Neue dem Leben zu stellen.

Es gibt Zeiten, in denen hat man das Gefühl, jede Wurst wäre verdorben, jeder Autofahrer eine Frau, jeder Pilot ein Terrorist und jede Brücke einsturzgefährdet. Wenn es ganz beschissen läuft, dann verliert man auch schon mal den Mut.
Doch im Prinzip ist es wie mit einer tiefen Wunde. Zuerst tut sie ganz furchtbar weh, es kommt ein Verband drum und nach eine Weile nimmt man diesen dann wieder ab, und tadaaa, die Wunde ist einfach so verheilt. So viel zur Theorie...

Nun bin ich müde und werde mich in mein quietschendes, altes Bett legen, nur um zu merken, dass ich wieder nicht einschlafen kann. Aus Angst, die Decke könnte mir auf den Kopf fallen.

Schlafen Sie gut.