Wednesday, November 22, 2006

dreißigprozentschlimm

Nur nicht zuviel erwarten.
Dieses Jahr habe ich ein besonders tolles Geschenk für dich zu Weihnachten. Ich will nicht enttäuscht sein. Enttäuscht, weil du kein Geschenk für mich hast. Ich will dir nur eine Freude machen. Du hast viel um die Ohren und kommst sicher nicht dazu, dir ein schönes Geschenk für mich auszudenken. Das ist schon okay.

Meine Probezeit ist bald rum. Ich mache meinen Job ganz gut, denke ich. Hab' mich schnell eingefunden hier. Die Kollegen gehen zusammen mittagessen. Sie kennen mich noch nicht so gut, vielleicht nehmen sie mich mal mit, zum Essen, wenn ich übernommen werde. Ich wäre enttäuscht, wenn ich nicht übernommen werde, glaube ich. Ja, ich mache meine Arbeit gut, aber die Unternehmen müssen ja auch wirtschaften, da bin ich dann vielleicht zu teuer. Oder es gibt jemand, der meine Arbeit noch besser kann. Vielleicht bin ich nicht gut genug. Vielleicht denke ich nur, ich sei gut, dabei hat den Job vielleicht schonmal jemand besser gemacht. Ich esse zu Hause ja auch allein, da ist das hier gar kein Problem. Wahrscheinlich übernehmen sie mich nicht. Ich will nicht enttäuscht werden. Ich darf nur nicht zuviel erwarten, dann bin ich es nicht. Nur ein bisschen vielleicht.

Die Heilungschancen liegen bei 70%, sagt der Arzt. Ich weiß noch, wie ich geweint habe, als ich von deiner Krankheit erfahren habe. Wie wir beide dasaßen und weinten, Arm in Arm, weil wir es einfach nicht fassen konnten. Es klang so schlimm, jetzt ist es nur noch dreißigprozentschlimm. Morgen um diese Zeit operieren sie dich schon. Wie der Arzt das wohl berechnet hat, die 70%? Ob er da eine Statistik über ähnliche Operationen zu Rate gezogen und einfach die Toten gezählt und von der Gesamtheit aller Operationen abgezogen hat? Ich weiß es nicht. Ob der Arzt bei Studienantritt wusste, wieviel Mathematik er in seiner beruflichen Laufbahn noch begegnen wird? Ob er da enttäuscht war? Ich wäre es wohl gewesen. Ich war in Mathe auch nie besonders gut. Womöglich hätte ich mich auch hier verrechnet und den Angehörigen ganz falsche Hoffnungen gemacht. Morgen abend werde ich dich dann im Krankenhaus besuchen. Zu 70%.

Und wenn nicht? Wo wirst du sein, wenn du nicht mehr lebst? Bist du dann überhaupt noch? Irgendwo? Im Himmel vielleicht, wie man es uns damals im Konfirmandenunterricht erzählte? Weißt du noch? Wärest du enttäuscht, weil du noch soviel machen wolltest, unten auf Erden. Wir wollten doch noch gemeinsam die Wohnung streichen, erinnerst du dich? Ganz rot, weil du weiß so spießig findest.
Ich wäre wohl enttäuscht. Enttäuscht, dass Enttäuschungen auch nach dem Tod nicht aufhören. Ich hab's dir immer gesagt, erwarte nur nicht zuviel, dann bist du nicht so sehr enttäuscht. Nur ein bisschen vielleicht. Gerade frage ich mich, wie es wäre, wenn du morgen abend gar nicht mehr wärst. Wenn nach dem Tod kein Leben kommt. Wärst du auch enttäuscht, wenn es kein Leben mehr gibt, wenn das irdische Leben vorbei ist? Nein, wie solltest du auch? Du könntest ja gar nicht enttäuscht sein, wenn du nicht mehr bist.
Ich will doch gar kein Geschenk. Ich brauche den Job doch überhaupt nicht, auch keine Kollegen um mich in der Mittagspause. Alles, was ich brauche, sind dreißigprozent mehr, um diese Nacht zu überstehen. Um nur nicht zuviel zu erwarten. Ich will dich morgen abend besuchen. Ich will mit dir zu Mittag essen. Ich will rote Wände. Es ist doch bald Weihnachten.

Zu 70% bin ich morgen abend nicht enttäuscht. Für die verbleibenden dreißigprozent wünsche ich dir, dass zumindest du es nie mehr sein musst, selbst wenn es vielzuviel erwartet ist.