Monday, July 28, 2008

Trümmer und Fetzen

Irgendwann haut doch jeder einmal ab. Lässt alles hinter sich. Fängt neu an. Irgendwann kommt einfach der Punkt, wo alle stehenzubleiben scheinen und nicht mehr mitgehen wollen. Manche, weil sie auf halber Strecke schon einen schönen Ort gefunden haben, an dem sie sich niederlassen wollen. Andere, weil ihre Beine lahm und ihre Köpfe müde werden und sie sich erschöpft an einen Laternenpfal klammern, bis sie der Besenwagen einsammelt und zurückbringt. Dann rennt man auf einmal vor den anderen weg, obwohl man doch anfangs zusammen losgelaufen ist. Doch jeder definiert sein eigenes Ziel. Manche kennen Abkürzungen, andere laufen die absurdesten Irrwege entlang, bis sie ihr Ziel letztlich ganz aus den Augen verlieren. Und manch einer, der ist einfach losgelaufen, einfach abgehauen, ohne Ziel, einfach nur weg-weg-weg. So einer kommt nie an. So einer steht lieber mit leeren Händen als mit einem prallgefüllten Kopf da. Alles hinter sich lassen. Neu anfangen. Und im vorbeilaufen kurz winken, damit sich niemand Sorgen macht. Alles ist in Ordnung. Sollen sie das doch denken. Bis sie das tatsächliche Chaos entdeckt haben, ist man längst über alle Berge. Und Flüsse und Seen und Täler und alles, was man sieht, vergisst man auf der Flucht. Alles hinter sich lassen und nichts hinterlassen. Keine Spuren, keine Freude, keine Tränen. Einfach weg. Weg-weg-weg. Und irgendwann ist man so weit gelaufen, dass man wieder am Startpunkt angekommen ist, ohne es zu merken. Vielleicht ist es dann gar nicht mehr so schlimm. Vielleicht bleibt man kurz stehen und sagt hallo zu allen oder manchen. Vielleicht fängt man einfach ganz neu an. Mit all den Wünschen, Träumen und Lügen im Gepäck, das man während der Flucht die ganze Zeit mit sich rumgeschleppt hat. Vielleicht vergisst man diesen schweren Koffer auch irgendwann einmal. Womöglich endet er dann als herrenloses Gepäckstück und wird zur Sicherheit gesprengt. Trümmer und Fetzen. Mehr ist es nie gewesen.

Saturday, July 12, 2008

Fehlende Seiten

Der Klang ihrer Geige ließ ihn wimmern wie ein Baby. Es war das selbe Lied, jedes Jahr im November, wenn die letzten Blätter den Boden erreichten. Das selbe Lied.
Nur mit Bademantel und Socken bekleidet saß sie da. Und sie spielte, unzählige Stunden am Stück, das selbe Lied, immer und immer wieder. In diesem völlig leeren Raum. Nur ein Stuhl in der Mitte, auf dem sie saß und spielte. Bis es dunkel wurde. Dann ging sie zu ihm, nahm ihn in den Arm und wischte ihm die Tränen aus den Augen, während sie mit den eigenen zu kämpfen hatte. Dann schloss sie die Tür, wie man auch ein dickes Buch schließt, das man nicht ausgelesen hat. Mit all dem Wissen von der Ungewissheit, mit dem Drang nach Auflösung und mit der Müdigkeit, die einen auf ein unbestimmtes morgen vertröstet.

Sie schlief immer zuerst ein. Dann legte er seine Hand auf ihren Bauch und es schien ihm, als könnte alles wieder gut sein. Als sei das alles nie passiert. Dann schlief auch er, während nebenan noch immer die Geigentöne nachhallten, die davon erzählten, dass ein Vogel Hochzeit feiern wollte.


Es sollte nur ein Kapitel lang halten und es brach ihnen das Herz. Als der nächste November kam, blieb der leere Raum mit der Geige verschlossen, wie ein dickes Buch, das im Regal verstaubt. Ein dickes Buch, dessen wichtigstes Kapitel herausgerissen wurde und dessen Ende für sie so einfach keinen Sinn mehr ergeben hätte.

Friday, July 11, 2008

Schneekugel

I

Wann fängt es an
wann kann ich sagen
dass der Tag gekommen ist
an dem alle anderen schlafen
und du nicht mehr bei mir bist
wenn all die Menschen die wir trafen
längst schon heimgegangen sind
ich bleib' zurück
nur noch ein Weilchen
ich bleib' zurück
und all die Zeichen
welche wir nicht kommen sahen
die uns unsere Träume nahmen
nur noch ein kleines Stück
ein winzig kleines Stück
und ich werd' verrückt
ich bleib' zurück
nur noch ein Weilchen
zurück
denn all die Zeit schon
wussten wir dass der Moment
in dem man es beim Namen nennt
kein Ende kennt

Wann fängt es an
wann kann ich sagen
dass der Tag gekommen ist
und was bleibt zurück?



II

Nächstes Jahr
komm' später
dieses Jahr braucht noch Zeit
für all die Dinge die ich liebe
und für Gedankenlosigkeit
es ist ein Kampf den ich verliere
glatter Sieg durch K.O.
lass' mir noch ein paar Runden
du gewinnst doch sowieso
nächstes Jahr
wie schön es war
wie schön es war
das letzte Jahr.